1.
Die Rettungshubschrauber suchten noch immer. Rojen starrte auf die Lichtlanzen, die in die gewaltigen Berge hineinstocherten, in den Gletschern wühlten; den Versuch wagten, die Nacht einige Momente zur Seite zu schieben, immer und immer wieder; eine neue Position einnahmen; stocherten und wühlten; suchten.
Langsam drehte sich Rojen, wie zum Spiel, im Kreis. Breitete seine Arme aus. Dröhnte wie die, in der Ferne fliegenden Maschinen. Er­niedrigte den Abstand der Schritte. Wirbelte auf den Zehenspitzen zwei bis drei Mal schneller als bisher. Hörte das Zirpen einer Frauen­stimme. Sah das verwischte Gesicht von Ina. Sah die weißdurchfleck­ten schwarzen Berge, den zerfließenden Frauenkörper. Stellte sich nach fünf Atemzügen wieder auf die Fußballen, wobei er die Ge­schwindigkeit drosselte; klappte die Arme eng an seinen Körper. Stand nach vier Umkreisungen still.
Schwaches Mondlicht. Ergraute Gartenmöbel. Das gelblichweiße Gä­stehaus. Dahinter das trübe Meer schwerer, dunkler Granitberge, die sich in Rojens Augen wölbten als eine sich überschlagende Welle schwarzen Fels. Vereinzelte Spritzer schlugen an seine Schläfe. Durch seine geschlossenen Augen brachen Gebirgsketten ein. Der er­ste Aufschrei löste sich. Die Berge fingen seinen unverständlichen Schrei auf, verdoppelten, verdreifachten, verfielfachten ihn, schallten ihn dutzendfach zurück. Leises Weinen mischte sich mit ein. Gab dem Echo eine neue Melodie.
Rojen klammerte sich an einen der zugeklappten Sonnenschirme. Wimmerte vor Angst. Vor Angst, die Brandung der spitzen Felsen würde alles niederreißen, niederwälzen, zunichte machen, zerquet­schen wie eine Fliege, die durch das zufällige Kratzen einer Hand weggewischt wird.
Behutsam strich Ina mit ihren Fingerkuppen über sein nasses Ge­sicht, über die zitternden Wangen, durch das struppige Haar. Legte ihm den Daumen auf den Mund. Sein Weinen verstummte, der Kör­per zuckte noch einmal kurz zusammen, die verkrampfte Hand löste sich von dem Sonnenschirm. Ina zog Rojen, unter dem stärker wer­denden Regen, an sich. Rojen glitt in ihre Arme.
Die Wirtin kam ihnen mit platt gedrückten Haaren entgegen.
»Frau Selcher, ist Herrn Trebis etwas passiert, oder ist ihm vielleicht nicht gut?«, raffte ihr Nachthemd am Bein zusammen.
»Soll ich ihm einen Magenbitter bringen?«
Ina verneinte. Rojen stotterte etwas von Messer in ihm, die verblu­ten, das niemand verstand. Die Wirtin ordnete verschämt ihre Haare.
Alle zusammen gingen in das Haus zurück, in ihre Zimmer — schlafen. Die Spitzen der Berge lagen wieder im dunklen Schlummer. Kein Ge­räusch erbebte mehr.

»Das waren noch kleine Jungens, keine 17 Jahre alt, beide tot. Erst heute, in der Früh wurden sie gefunden, im Radio haben sie’s ge­sagt!«, brachte die Wirtin, zusammen mit dem Frühstück, die Nach­richt.
Rojen musterte das gealterte Gesicht der Wirtin, reichte Ina den Brotkorb, dann den Zucker, schnitt ein Mohnbrötchen auf, hielt ein, sah wieder auf das Gesicht der Wirtin.
»Heute geht es mir auch wieder viel besser. Ich weiß nicht, was ge­stern mit mir los war. Entschuldigen Sie!«
Kopfnicken und die abwinkende Hand der Wirtin.
Rojen und Ina fühlten wenig Appetit. Rojen tupfte sich den Mund mit der Serviette.
»Mach doch bitte die Serviette auseinander, du weißt doch, ich kann das nicht ertragen!«, sagte Ina, und trank den Kaffee in großen Schlücken aus.
Rojen legte die Serviette noch einmal zusammen, tupfte sich noch­mals den Teerand vom Mund, stand vom Tisch auf und ging aus dem Frühstückszimmer. Ina kratzte mit dem Löffel auf dem Boden der Tasse, drehte ihn einigemal im Kreis, ließ ihn fallen und ging Rojen nach. Sie holte ihn ein, fuhr mit ihrer Hand in seine, die ihre Hand einige Sekunden lang abschütteln wollte, er es dann doch geschehen ließ.
Eine dunkle Haarsträhne fiel ihr in das weiche Gesicht. Sie ließ die Hand nicht locker, erhöhte sogar den Druck und fuhr mit ihrem Daumen über seine breite Hand.
»Wir dürfen nicht vergessen zu packen, der Zug fährt in zwei Stun­den!«, sagte sie fest, löste sich leicht aus der Umarmung seiner Fin­ger und ging mit schnellen Schritten in ihr Zimmer.

Frühe Morgensonne fiel auf die zugeschneiten Gartenmöbel vor dem Haus. Zugeklappt standen die Sonnenschirme als weiße Pfeile in der Mitte der Terrasse.
Das Taxi fuhr vor, hupte einige Male, bis Rojen und Ina aus dem Haus kamen; ein letztes Händeschütteln mit der Wirtin tauschten, auf das Taxi zugingen, dem Haus und der Wirtin eine letzte Kopfbe­wegung zuwarfen und in das Taxi einstiegen.
Der Bahnhof lag nur einige Minuten von der Pension entfernt. Ina zahlte. Rojen stieg aus, nahm beide Reisetaschen, ging zum Fahrkar­tenschalter, stellte die Reisetaschen davor ab, kaufte zwei Karten, drückte der Nachgekommenen die Karten in die Hände, verließ mit leeren Händen die Bahnhofshalle und verschwand, in der wenige Schritte entfernten Bahnhofsgaststätte.
Der Geruch frisch gebohnerten Bodens reizte die Nase. Wenige Gäste. An der Theke saß noch die Putzfrau. Vor Rojens Füßen rutschte ein Junge aus, der durch die Stuhlreihen gerannt war. Er weinte. Rojen sah irritiert auf den Liegenden. Gegen die murmelnden Geräusche der Gaststätte stach das hohe Geräusch des blonden Jungen wie Nadel­stiche in seinen müden Kopf. Rojen setzte sich, stopfte die Zeigefin­ger in die Ohren — das Geräusch wurde dumpfer und klang nach und nach von selber aus. Die Putzfrau war zu dem weinenden Kind ge­gangen, führte es zum Tresen, bestellte eine Cola, die der wimmernde Junge, das Knie haltend, Schluck für Schluck austrank. Unter den kurzen, streichelnden Strichen der Hand seiner Mutter durch sein Haar, begann er sich zu beruhigen, näher an sie heranzurücken und sich schließlich ganz verloren in ihrem Schoß zu versenken.
Eine nachlässig gekleidete Bedienung stellte sich vor Rojens Tisch auf. Ein Geschirrhandtuch hing wie ein Lätzchen aus dem Kragen ihrer Bluse. Rojen starrte auf das karierte Muster des Tuches, mu­sterte das spielerlose Feld, musste verlegen geworden, seine Finger aus den Ohren nehmen. Bestellte ein Weizen und einen Schnaps.
Ina trat in die Gaststube ein. Das Kind sah zu Ina, schluchzte noch einmal laut auf. Ina lächelte ihm zu, setzte sich auf den gegenüber­liegenden Stuhl von Rojen.
»Was soll das?«
Ina warf ihm seine Fahrkarte zu, die flatternd auf dem Tisch landete.
Schweigend griff Rojen nach dem Papier, steckte es ein, trank den Rest Weizen aus, der Schnaps folgte.
Rojen stand auf, ging zum Tresen, nahm loses Kleingeld aus der Ho­sentasche, zählte ab, wies mit gedrängter Stimme auf das Geld. Die Kellnerin sah vom Zwiebel schneiden auf, drehte sich um, nahm das Geld und ordnete es in die Kasse ein. Lange sah ihm das Kind noch nach.

Rojen glotzte auf das plakativ lächelnde Liebespaar. Sie hielt einen Blumenstrauß in der Hand, schien glücklich zu sein, wie er, der sie anhimmelte. Unter dem Werbeplakat blühte Löwenzahn. Rojen riß ihn mitsamt der Wurzeln aus der Mauerritze. Wischte und pustete die Erde von den Wurzeln frei, drückte ihn Ina in die Hand, wieder­holte die Werbung.
»Eigentlich wollten sie den IC um 11.13 Uhr, 12.13, 13.13, 14.13, Pünktchen, Pünktchen nehmen.«
Rojen spannte seinen rechten Gesichtsmuskel zu dem schiefen Grin­sen an, das Ina überhaupt nicht mochte und wiederholte »Pünkt­chen, Pünktchen.«
Ina hatte den Löwenzahn auf die Erde gelegt, wandte sich zu ihm.
»Wie lange ist das her? Und Blumen hast du mir schon lange nicht mehr geschenkt!«
Lange sahen sie sich stumm an.

Stumm saßen sie im Zug. Rojen hatte die Füße übereinandergeschla­gen, Ina sich entspannt zurückgelehnt. Beide sahen nach draußen, zu den vorbeihuschenden Bildern. Der Zug holperte mit steigender Geschwindigkeit über die Gleise; das auf Eisen scharrende Geräusch kratzte in Rojens Ohren. Berge, die Landschaft der Schweiz ver­schwanden mit der Konsequenz des sich fortbewegenden Zuges, wie Erinnerungsbilder. Ein nach Pizza und Rauch riechender junger Mann setzte sich neben Ina, versicherte sich ihrer Aufmerksamkeit durch das Zusammenziehen seiner dünnen Lippen, zu einem langge­zogenen Strich. Wie die Schneide zweier roter Messer sahen sie aus, dachte Rojen, die langgezogenen Messerstriche seiner Lippen, zwei aufeinanderlie­gende wetzende Messer war der Mund des jungen Mannes. Dessen schmalen Augenbrauen zogen sich in die Höhe, als er mit zäher Gleichförmigkeit auf Ina einzureden begann.
Rojen schmiegte sich eng an die Gleisscheibe, stopfte sich die Zeige­finger in die Ohren, hörte dumpfe Wortfetzen, die ab und an nur von kurzen, ein wenig höher Klingenden abgelöst wurden. Die Worte klirrten. Das Glas fühlte sich kühl an — und sicher. Rojen atmete aus. Über das Glas legte sich ein ungleichmäßiger Kreis kondensierter Feuchtigkeit. Er wartete ab, bis der Kreis kleiner und kleiner wurde und schließlich verschwand. Atmete auf die Scheibe aus. Wartete ab, bis der Kreis kleiner und kleiner wurde und schließlich verschwand. Wiederholte es. Wartete ab. Sah schließlich, die Stirn noch am Glas angelehnt, auf den Mund des jungen Mannes, der an einem Brötchen kaute, herunter schluckte, das letzte Stück in den Mund schob und Rojen ein Zeichen machte, ob er etwas trinken wolle. Rojen schüt­telte den Kopf, nahm die Finger aus den Ohren. Der junge Mann ver­zog sein Gesicht zu einem faltigen Luftballon, das böse blitzte.
Ina saß zurückgelehnt im Zugpolster, bot Rojen ihre Hand an. Rojen stand auf. Nahm Inas Hand um sie zum Aufstehen zu zwingen, führte sie aus dem Abteil, in den langgezogenen Gang, löste sich aus ihrer Hand, drückte ein Fenster herunter.
»Vielleicht sollten wir uns erst einmal nicht mehr sehen — oder …«, sagte Rojen, wartete nicht auf Inas Antwort, ging wieder zurück zum Abteil.
Der junge Mann hatte zu Ende gekaut, sah zu Ina, die sich bedächtig eine Zigarette drehte. Der junge Mann beugte sich zu ihr, gab ihr Feuer. Sie atmete tief ein, dann aus. Rojen fixierte sie einige Mo­mente, legte die Stirn wieder an die Glasscheibe, beobachtete im Spiegelbild den jungen Mann. Mit der Minenspitze des Kugelschrei­bers zog dieser Stück für Stück die Haut seines Mittelfingers in das Nagelbett zurück.
Angestrengt preßte der junge Mann seinen Mund zusammen, sog immer wieder tief Luft aus den verstopften Nasenlöchern. Rojen spannte seinen Rücken durch, hob ein wenig das Gesäß, so daß er mit langem, ausgestrecktem Arm das Fenster schließen konnte. Der junge Mann war zum Ringfinger übergegangen, visierte mit der Ku­gelschreibermine die überlappende Fingernagelhaut an. Senkte lang­sam die Mine nieder, strich die Haut zurück.
Die Füße übereinandergeschlagen sah Rojen zu Ina auf, die die Ziga­rette in der rechten Hand, die Reisetasche bereits in der Linken hielt, sich durch die Füße von Rojen und des jungen Mann schlängelte.
Rojen sah die vorbeifliegende Landschaft, die immer endloser wurde. Seine Stirn fühlte die Kühle des Glases. Der langgezogene Messer­strich, die der Mund des jungen Mannes bildete, verharrte einige Se­kunden lang. Dann schien der junge Mann sich um nichts mehr an­deres zu kümmern als um die Nagelhaut des kleinen Fingers.

In der zugigen Bahnhofshalle schaukelte das Bahnhofsschild. Eine der fliegenden Bahnhofsmäuse flog auf, krallte sich auf dem warmen Waggondach fest.
Er vermisste Ina schon jetzt. Warum auch hatte sie noch auf den Urlaub bestanden, wo sowieso alles entschieden war — von ihr.
Der Koffer stand neben ihm, die Taube auf dem Waggondach rutschte ab, landete auf dem Bahnsteig, wenige Meter vor ihm. Er versuchte sie aufzuscheuchen: ein lahmer Flügelschlag. Er lief auf sie zu. Die graue Taube tippelte, rannte, hüpfte. Nach wenigen Metern wippte sie mit den Flügeln, flog auf, ging in die Höhe, verschwand hinter dem Zug aus Bern.
Den Zeitglockenturm hatten sie gesehen, im Stadttheater waren sie gewesen, das Stück wußte er nicht mehr, sie hatten sich gestritten. Bern das waren bloß vier Tage in der Pension mit Blick auf die Berge Sterbender. Die Kuhle zwischen den Betten hatte sie nicht gestört. Zehn Tage waren gebucht. In den Berner Alpen fuhr sie Ski. An ne­bel­freien Tagen sah er durch das Fernglas auch die Spitze der Jung­frau. Er hatte dann auf Einzelzimer bestanden. Abgelehnt hatte er einen Skikurs für Anfänger — sie war nicht einmal enttäuscht gewe­sen.
Wie ein schmaler, hoher roter Stein erschien ihm sein Koffer, der aber als Grundstein in der Bahnhofshalle keinen Sinn ergab. Rojen klappte den Griff auf, faßte ihn mit der rechten Hand, zog den Arm an. Bereits jetzt zogen sich die Muskeln säuerlich zusammen.
Neben ihm roch es nach Pizza, der junge Mann aus dem Abteil hatte seine kalbsgroße Reisetasche, wie einen kurzen Rucksack, über den Rücken gezogen, verharrte einen Moment wie in Gedanken, und ließ seinen Mund wieder zu den aufeinanderschlagenden Messer werden. Nahm ein Taschentuch hervor, legte es über die breite und hohe Nase. Das Taschentuch wurde nicht zerschnitten von den scharfen Kanten, von der Schneide der Lippen. Der junge Mann schneuzte sich frei. Rojen sah an ihm vorbei, reckte kurz den Kopf, sah den schweren Frühlingshimmel. Seit Tagen war der Regen ausgeblieben.
Einige Meter war der Koffer getragen, der lange Gehsteig vor dem Bahnhof schien aus weicher und den lastenden Schritten ermüden­der Watte zu bestehen. Die Muskeln um die Schultern, selbst am Hals hatten sich verkrampft.
Über der Stadt lag eine große Schwüle. Die Luft war am Eindicken.

Der Taxifahrer hievte die Last in den Kofferraum.
»Kann ich mitkommen?«, fragte ein kleiner Junge, der plötzlich er­schienen war.
Die Hand noch am schmerzenden Hals sah Rojen um sich. Warum nicht, dachte er und massierte weiter seinen Hals.
Der Fahrer schwieg. Die Fahrt ging gut voran. Der Verkehr floss durch die Stadt. Es war früher Abend geworden, alles dunkelte.
Fast hätte er den zweiten Fahrgast, den kleinen Jungen vergessen.
Gern hätte sich Rojen zur Ruhe gelegt. Dann aber sah er es blitzen. ein blaues Taschenmesser streckte der Junge über die Handbremse hinweg, leicht zur rechten Seite gewandt.
»Sehr schön!«, lobte Rojen und schlief vor Erschöpfung tief ein.

Im Hausflur roch es nach Braten und Kartoffelbrei. In das Innere der Aufzugskabine waren Buchstaben geritzt. Etwas mußte bleiben und er ritzte mit dem Messer ein ›I‹ ein.
Bei der Rundung des kleinen ›n‹ war er bereits im vierten Stock, zwei Schritte noch entfernt von seiner Haustür. Er drückte auf ›E‹ – der Aufzug fuhr wieder nach unten. Die Rundung des ›n‹ machte Schwierigkeiten, die mit dem Drücken auf ›4‹, auf der Hälfte des Weges beseitigt waren. Für das kleine ›a‹ drückte er noch einmal das ›E‹, danach die ›4‹.
Es war getan, er ging die zwei Schritte zu seiner Wohnung, der Schlüssel kratzte im Schloß. Rojen zog ihn zurück. die Zacken ver­schwanden wieder im Etui. Rojen ging zum Aufzug, drückte den Pfeil nach unten. Sofort schoben sich die Türen zur Seite. Die Mühe hatte sich gelohnt. Er strich über den eingeritzten Namen.
Plötzlich bewegte sich die Kabine nach unten. Im Erdgeschoß stieg ihm Duft von ranziger Butter in die Nase, der Hausmeister grüßte.
Rojen stieg aus, ging vor die Tür. Dort wartete der Junge auf ihn. Ganz vergessen hatte er ihn. Rojen gab ihm das Messer zurück, der Junge grinste und verschwand.
Schnell ging Rojen wieder in das Haus zurück, drückte den Pfeil nach oben. Wartete, die Aufzugstüren schoben sich auseinander. Rojen stieg ein, drückte die ›4‹, stieg aus, ging die zwei Schritte zu seiner Haustür, steckte den gezackten Schlüssel in das Schloß, wobei er plötzlich an die Paarungen von Katzen dachte. Durch eine Art Wi­derhaken am Penis konnten sich die Kater nur schwer von den rolli­gen Katzen lösen.
»Deshalb miauen die Katzen so laut!›, hatte ihm die Großmutter beim Eis schlecken ins Ohr geflüstert.
Das Glück der Liebe, dachte Rojen und ging langsam in seine Woh­nung.

Die Nacht verschloß sich hinter den Gardinen, unter den warmen Federn der Müdigkeit von Rojen. Bern, das Hotelzimmer wurde eingeflogen. Die eng beieinanderliegen­den Falten ihrer Haut bedrückten ihn. Ob sie 60 oder 70 Jahre alt war wußte er nicht. Im Schummer sah er ihre zusammengefallenen, verdorrten Brüste. Er nahm seine Hand aus der vertrockneten Hülle ihrer Hände. Suchte unter dem Kopfkissen verzweifelt lange. Rojen schnaubte. Es war keine Verteidigung möglich.
Auf dem kleinen Hoteltisch aus Marmor stand der kleine Junge, jounglierte mit Messern. Rojen rief ihm zu, bat um Hilfe; der Junge grinste, warf die Messer in die Luft, die sich mit der Geschwindigkeit von Schmetterlingen dem Bett näherten.
Die Nacht war noch nicht vorüber, hinter den Gardinen war der Mor­gen noch weit.
Rojen fiel in das Kissen zurück, in tiefen wie endlosen Schlaf.


2.
Die durchdringende Sopranstimme eines auf Porzellanteller kratzen­den Messers. Ein Käsebaguette, das kraftvoll durchschnitten wurde und das Messer von einer langen, schmiegsamen Zunge abgeleckt und eine neue Attacke begonnen.
Rojen stopfte sich die Zeigefinger in die Ohren, beobachtete den ab­nehmenden Schaum in seinem Glas. Lästiges Frauenlachen drängte sich durch seine Fingerspitzen. Er sah auf; der Bedienung auf den, von zwei Hemdknöpfen entblößten Ansatz ihrer Brust, auf die vibrie­renden Lippen, in ihre weit geöffneten Augen.
Als zappelnder Fisch blieb Rojen in den Widerhaken ihrer ausgewor­fenen Augenangel stecken, wartete auf den gezielten Lippenschlag, der ihn von dem tödlichen Instrument abnehmen, ihn wieder zurück, oder in einen Eimer Wasser werfen würde.
Kalte Luft blies durch die geöffnete Tür. Ein kleiner Junge, der zu dieser Uhrzeit sicherlich schon ins Bett gehörte, setzte sich auf den freien Stuhl neben Rojen. Sie musterten sich lange. Die linke Hand streckte er Rojen entgegen. Unschlüssig, doch um den Jungen nicht zu verletzen, nahm Rojen einen Zeigefinger aus dem Ohr und legte seine offene Hand in die des Jungen. Glatt faßten sie ineinander.
„Hast du dir schon einmal ein Stück Haut herausgetrennt?“
Rojen starrte auf die gewaltige Nase des Jungen. Groß und krumm, wie der Hauptmast eines Schiffes bei Sturm.
„Nein.“, mußte Rojen endlich und ehrlich antworten.
Rojen verschränkte die Arme und sah der Bedienung nach. Der kleine Junge legte sanft die Hände, je rechts und links auf Rojens Schul­tern.
„Kannst mir glauben, echt. Übung sag‘ ich dir, Übung is alles!“
Der kleine Junge nahm seine linke Hand von Rojens Schulter. Kram­te in den engen Hosentaschen. Legte ein blaues Taschenmesser auf den, von Bierlachen durchtränkten Tisch.
Sie fixierten sich herausfordernd.
„Ich hab‘ es herausgefunden. Du kannst es mir glauben. Alles heilt wieder! Glaub’s mir doch!“, schrie er.
Der kleine Junge zog seinen dicken Pullover hoch über die glatte Brust. Vom Bauchnabel aufwärts, bis zu den winzigen Brustwarzen waren quadratische, wie Kopfsteinpflaster angeordnete Narben. Zur Bestätigung zeigte er mit der Spitze des Messers auf die rosa Haut, die glatt und dem Widerstand des Messers ausweichend, leicht nach­gab.
„Diese Stelle ist heute dran. Weißte mit System mußte dran gehen, mit System!“
Rojen konnte das alles nicht länger ertragen. Bezahlte, stierte der Bedienung auf ihre engen Hosen; kratzte sich verlegen am Bauch.

Auf der Straße versuchte Rojen zu widersprechen.
„Mit System erreichst du nichts, und warum überhaupt diese ganze Stecherei?“
Der Junge sah ihn nicht mehr an.
Ob er ihn damit wenigstens verärgert hatte, er sich von ihm langsam zurückzog? Sollte er doch einem anderen seine Kunststücke vorfüh­ren.
Nach einiger Zeit hörte er die schmale Stimme wieder neben sich.
„Gib mir fünf Minuten, nur fünf Minuten!“
Rojen wollte ihm überhaupt nichts geben, lief weiter zur U-Bahnsta­tion. Eisige Luft kratzte auf seinem Gesicht.
Einzelne Männer gingen die Straßen entlang. Unter einem Neon­schild hielt eine Frau einem Mann ihren Mund zum Kuß.
Rojen horchte auf die Melodie trippelnder Schritte; starrte auf die, sich aufplusternden Mäntel; die Hände, die in den wärmenden Ta­schen steckten.
Ein Aufschrei! Der kleine Junge mit der krummen Nase hatte einer Passantin, die langsam hinter ihnen gegangen war -ihn wohl belä­stigt hatte- die Messerspitze mehrmals in den Handrücken gestoßen. Nicht tief, aber fest. Jetzt versuchte sie nicht mehr seinen Kopf zu erhaschen, um ihm, wie bei einem Kleinkind, über die struppigen Haare zu streicheln.
Rojen mußte anhalten, so konnte es nicht weitergehen. Nahm ein Taschentuch aus der hinteren Hosentasche, gab es der verletzten Passantin.
„Sie sehen doch in welcher Verfassung sich dieser Junge befindet. Das hätten Sie doch wissen müssen!“
Kopfschüttelnd wandte sich Rojen zu ihm.
Mit offenem Mund sah der kleine Junge auf das Messer, das auf den bloßen, nackten Bauch gerichtet war. Die Spitze traf schon auf die Haut. Der Pullover hing hochgewickelt über der Brust bis zur krum­men Nasenspitze; wollte es ihm vorführen.
Rojen schrie „Hau ab! Geh‘ doch zu deiner Mutter und zeig es ihr -aber mit System!“
Der kleine Junge fing an zu weinen. Die Passantin war einige Meter vor ihnen stehen geblieben. Kam zurück, sah Rojen böse an. Hatte jetzt bereits Partei für den Kleinen ergriffen und sagte im ruhigen Ton „Nun gehen Sie und lassen meinen Jungen in Ruhe. Sie haben ihn schon genug durcheinander gebracht!“

Keuchend erreichte Rojen den U-Bahn Schacht. Hörte das Läuten der Anzeigetafel, stürzte fast die Treppen hinunter, konnte sich ge­rade noch durch die sich schließenden Türen der U-Bahn drücken.
Die U-Bahn war zu warm um wach zu bleiben.
Eine Hand rüttelte an seiner Schulter. Erschrocken sah er auf das Gesicht: keine krumme Nase: kein kleiner Junge!
Das Licht hatte die Stärke einer öffentlichen WC-Birne und ließ jene Nase um ein Vielfaches größer erscheinen. Lächelnd begutachtete Rojen dessen Nase, berührte sie.
„Sie sind ja betrunken!“, rief der U-Bahn-Angestellte.
Dessen Nase war wirklich um einige Zentimeter kleiner und wesent­lich gerader als Rojen vermutet hatte.
„Keineswegs! Sie erinnerten mich nur unangenehm an einen Jun­gen!“
„Lassen Sie mich mit ihren Familienangelegenheiten in Ruhe!“, sagte der U-Bahn-Angestellte barsch und zerrte Rojen aus der Bahn, die Treppen des Bahnschachtes hinauf.
Weit und breit kein Mensch! An der Straßenecke leuchtete der Kiosk. Rojen pochte an die Scheibe, drückte auf den Klingelknopf am Fen­sterbrett. Erst nach einigen Minuten wurde die Scheibe zurückge­schoben -sie quitschte. Der alte Mann blickte zu Rojen auf, nahm seinen Wunsch entgegen, stellte gleich darauf zwei Flaschen Bier und ein kleines Fläschchen Schnaps auf den Sims. Rojen bezahlte, wandte sich um, ohne die Augen des alten Mannes gesehen zu ha­ben.
Kühl und sicher lagen die Flaschen in seiner Manteltasche. In den kopfhohen Fenstern brannte kein Licht mehr. Den ganzen Weg ent­lang kein Mensch.

Der Hausgang roch nach der parfümierten Billigseife des Hausmei­sters. Rojen nahm eine der kalten Bierflaschen aus der Manteltasche und strich sich damit die Stirn entlang.
Im Aufzug roch es nach Pudelpisse. Rojen suchte nach dem eingeritz­ten Wort und fand es nicht. Er ging die zwei Schritte zur seiner Wohnungstür, sperrte auf.
Wie kalt es im Zimmer war, und es war Frühling. Entkronte die erste Bierflasche, stellte sie neben das Bett, kleidete sich aus, schlüpfte in das Bett. Trank abwechselnd Bier und Schnaps. Er hätte noch mehr mitnehmen müssen, er war immer noch nicht müde, trank aus der zweiten Bierflasche. Sah abwechselnd auf die weiße Wand, die karier­te Bettdecke, die Plüschkatze. Er stellte die Augen auf unscharf, fast schielte er. Versuchte zu schlafen.
Rojen hatte noch nicht einmal den Anschein eines Traums gespürt, da stach der kleine Junge zu, der in der Mulde, in der Mitte des Bet­tes gelegen hatte: stach ihm in die Wange.
„Komm mit!“, schrie er heiser.
Gewarnt von dessen zuckender Augenbraue widersprach Rojen nicht.
Noch aber hielt sich Rojen verkrampft am Leintuch fest. Ein senk­rechter, harter Stoß der Jungenhand, in der das Messer glänzte, trennte das weiße Laken von Rojen. Ließ sich kraftlos von der gewal­tigen Hand führen.
Der Junge zog ihn hinter sich her. Die schwarzen Farben rings um ihn störten ihn nicht.
Zielstrebig öffnete der kleine Junge Tür um Tür, riß an Rojens Hand, die sich krampfhaft lösen wollte, Unter dem ruckartigen Halt einer Notbremsung fiel Rojen schließlich auf den kleinen Jungen. Seine Augenbrauen zuckten. Sofort standen sie wieder auf. Vor ihnen lag der Raum in grauem Schummer. Der kleine Junge deutete mit der Messerspitze auf eine plötzlich entfachte Lampe. Gemeinsam gingen sie an den Rand des weiten Zimmers.
Das eigentümliche Licht wurde von der Decke und den Wänden auf­gefangen, reflektiert, auf den Boden geworfen. Aufgefangen, reflektiert von schmalglänzend weißlichblauem Metall. Griffe waren an den Ei­sen befestigt. Schwarze, rote, gelbe, blaue, grüne; aus Holz oder auch Plastik, die das Metall, das zugeschliffen-verletzend Könnende festhielten. Verlegen sah der Junge auf sein Messer. Der einst dun­kelblaue Griff war zu einem blassen, verkratzten und verbrauchten Etwas verkommen.
„Es ist Zeit, das du ein Eigenes bekommst!“, flüsterte er zu Rojen mit sanftklarer Stimme.
Die Augenbrauen des kleinen Jungen spannten sich feierlich nach oben an. Stumm zeigte er mit der Messerspitze auf die Lampe, vor der sich, im Bett aufgerichtet, zwei Menschen stritten.
Die übergroßen Hände der Streitenden schienen nach ihnen greifen zu wollen. Beide sahen sich nicht an. Zwischen ihren Schultern lag schwertbreite Luft. In der Mitte des Bettes saß er, der Mann; auf die rechte Seite gedrängt blickte sie, an ihm vorbei. Ob er sie ansah? Die Hände seines alten Körpers lagen angeschwollen auf braunem Stoff. Die Frau, deren Hände angespannt auf ihrem fliederfarbenem Nachthemd klebten, beschwor ihn, an ihre letzte Operation zu den­ken. Es ginge eben nicht, schon gar nicht in seiner jetzigen, lächerli­chen Verfassung. Abscheulich fände sie das, und leckte ihre trok­kenen Lippen naß.
Der Mann wurde lauter. Der Junge zeigte auf die gefährlich vibrie­renden Messer. Rojen verstand. Könnte es nicht geschehen, daß diese abertausenden Messer aus ihren Verankerungen, der Decke, den Wänden herausgerissen und auf sie fallen könnten? Rojen erschrak. All das hatte er nicht bedacht!
Weinen, das sich wie das Gewinsle eines jungen Hundes anhörte, riß mehrere Messer aus der Verankerung. Rojen hechtete zur Seite.
Der Junge grinste unter dem Türrahmen.
„Ich hab‘ es gewußt. So war es auch bei mir!“
Der Mann hielt seine angeschwollenen Hände wie ein großes Hand­tuch vor sein Gesicht. Nichts könnte schrecklicher sein, als daß sein lautes Schluchzen noch mehr Messer aus der Verankerung reißen würde. Es war richtig was er tat. Die Hände hielten, wie ein Schall­dämpfer einer Pistole, die Laute zurück.
Sie waren alle gerettet.
Rojen konnte nun wählen, was er wollte. Direkt vor seinen Füßen la­gen sie. Mit Holzgriff, wohl ein Küchenmesser; ein ausgeklapptes Ta­schenmesser mit blauem Plastikgriff; ein Silbernes ohne Griff und zuletzt ein Dolch mit Blechgriff. Rojen nahm das Taschenmesser, wog es hin und her, strich über das glänzende Blau, steckte es mit einem befreiendem Lächeln in die Hosentasche.
Die Nacht war gerettet.
Nichts zitterte mehr.
Sie konnten wieder schlafen gehen.


3.
Warum ließ das Kind die Katze nicht frei?
Warum hielt das Kind die Katze an den Vorderpfoten in der Senk­rechte?
Die Katze hielt ergeben still. Sie war jung und wurde von den langen, zierlich zupackenden Fingern des Kindes gehalten. Die Haare des Kindes fielen über das Fell des Tiers.
Rojen kniete nieder; streichelte Fell und Haare. Zuckte zusammen; nahm, um sich abzusichern, das Messer aus der hinteren Hosenta­sche, klappte es auf, strich liebevoll mit der Messerspitze über die samtene Nase der Katze. Eine Spur Wasser von der kaltnassen Nase verlor sich auf dem Metall. Er zeigte es den Augen des Mädchen.
Zwischen den Beinen des Kindes eingekeilt klemmten, die immer stärker strampelnden, weißen Plüschbeine der Katze. Rojen strich über die, vom Kleid des Kindes unbedeckten Kniee; stach in das wei­che Fleisch des Tiers. Das Kind ließ die Katze nach unten gleiten; dunkles Blut rann ihm die Beine entlang. Interessiert tupfte das Kind seine Finger in die warme Flüssigkeit, leckte daran. Sah in die erschrockenen Augen von Rojen und klatschte mit den blutver­schmierten Händen Rojen auf die Wange, auf der sich sofort helle, rote Fingerstriemen abzeichneiten.
Rojen riß sich zusammen, hielt den Blick des Kindes noch einen Au­genblick stand; rollte seinen Pullover ein wenig nach oben; setzte das Messer vorsichtig an die nächste Stelle; setzte langsam, mit dem ver­söhnlich werdenden Lächeln des Kindes im Einklang, das Quadrat in sein Fleisch, bis leichte Blutspuren die Bauchhaare färbten.
Am Bettrahmen angelehnt stand der kleine Junge und grinste. Schnell, ohne das Rojen es zu sehen verstand, entnahm der Junge dutzende Messer, wirbelte sie in der Luft, fing sie auf, warf sie erneut in die Luft. Wie das Weiß der Augen glitzerten die Spitzen der Messer. Mit langsamer Beharrlichkeit richteten sie sich auf sie aus. Zur Wehr setzen wollte sich Rojen. Unaufhaltsam aber glitzerten die Messer auf sie zu. Und rot glitzerten die Augen des Kindes.
Das Mädchen lächelte ihm zu.
Der einzige Schutz. Rojen verschanzte sich hinter dem Kind.
Pfeifend umarmten die Messer das Kind.
Rojen wunderte sich über die Größe des Kindes.
Es war ein Mädchen, ein großes sogar, ein sehr großes Mädchen.
Als es zu Boden sank waren alle Augen erloschen.